Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem wir – die, die das Abitur geschrieben hatten – auf die Verkündung unserer Ergebnisse warteten. Ungeduldig saßen wir im Klausurraum, einem großen leicht gewinkelten Raum voller Einzeltische, in dem wir fast alle unsere Prüfungen abgelegt hatten. Dieses „Abitur“, von dem wir so lange gehört hatten und das von Tag zu Tag immer etwas realer geworden war, hatte seinen Glanz, seinen Mythos oder welche Vorstellung man auch immer davon gehabt hatte, verloren. Ich wusste nicht genau, ob ich es geschafft hatte und doch war ich irgendwie zuversichtlich, dass diese Zitterpartie nun endgültig zu Ende war. Ich versuchte, fatalistisch zu denken. Mochte kommen, was kommen wollte. Jetzt konnte ich es ohnehin nicht mehr ändern. Nach 13 Schuljahren hatte ich mich endlich an diesen Punkt gebracht.
Irgendwie hatte ich mir den Moment würdevoller, größer, pathetischer vorgestellt. Die Hoffnung, die meinerseits mit dem Erreichen dieses Meilensteins einherging, lag vor allem darin, sich alle Wege möglichst offen zu halten. Vielleicht hatte ich auch gehofft, dass mir eine Eingebung käme, was ich mit diesem Leben anfangen und wie ich es gestalten sollte. Aber weder gab es eine größere Erkenntnis, noch ein Gefühl des Fortschritts. Die ehrliche Antwort war: Auch die letzten Schuljahre waren schwer gewesen; vielleicht waren einzelne Tage besser als manche davor, aber zu dem was ich wollte, was ich eigentlich war, hatte ich nicht gefunden. Ich hatte mich nur noch mehr davon entfernt.
Der Stufenleiter rief unsere Namen auf und jeder Schüler bekam einen Zettel mit den Ergebnissen gereicht. Es war soweit. Auch ich erhielt meinen Zettel und drehte ihn um. „Ich hatte mir mehr erhofft für Sie“ sagte der Stufenleiter mit einem gütigen Blick zu mir. Ich nickte und vertiefte mich in die Zahlen. Wie immer bei diesen Ritualen dauerte es nicht lange, bis die Emotionen um mich herum von Jubel bis zu „in Tränen aufgelöst“ reichten. Einige hatten es nicht geschafft, andere waren souverän wie immer, viele waren im Mittelfeld. Ich gehörte zu denjenigen, die mit 3,5 in der Diaspora zwischen 3 und 4 gelandet waren. Für die wenigen Stunden, die ich mich mit dem Thema Schule auseinandergesetzt hatte, war das ein tragbares Ergebnis. In diesem Sinne hatte sich der Schulwechsel gelohnt. Ich hatte es geschafft. Ja, ich hatte es tatsächlich geschafft. Doch weder war ich wirklich zufrieden mit dem Ergebnis, noch spürte ich großen Ärger. Es war das, wofür ich mich eingesetzt hatte, ein „irgendwie Abitur“.
Nachdem ich einigen um mich herum Trost gespendet und anderen gratuliert hatte schaute ich noch einmal auf meinen Zettel. 13 Jahre lang war es um nichts anderes gegangen. Tage, Nächte, Wochen, Monate, Jahre hatte ich gekämpft, mit mir gerungen, gegen mich und meine Eltern ausgeteilt. Und nun war alles mit einem Schlag vorbei. Nie wieder musste ich hierher zurückkehren. Nie wieder musste ich mir anhören, dass ich das doch gar nicht machen müsste, wenn ich es nicht wollte. Aber, was hätte ich sonst machen sollen?
Ich ging hinaus durch die bekannten Flure, zum Parkplatz auf dem meine Mutter im Auto wartete. Es war sehr selten, dass sie mich abholte. Doch diesen Moment wollte sie sich nicht entgehen lassen.
„Und? Hast Du es geschafft?
„Ja, so gerade eben durch – 3,5“.
Ihre zögerliche, verhaltene Reaktion ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben. Ich spürte ihre Enttäuschung. Es dauerte einen Moment, bis sie ihren Pragmatismus wiederfand.
„Naja, bestanden ist bestanden“ brachte sie heraus.
Ihre Enttäuschung enttäuschte mich. Was hatte Sie erwartet? Hatte sie nicht verstanden, was es mich gekostet hatte, hierher zu kommen? Hatte sie die inneren Kämpfe nicht gesehen? Nein, sie wusste nicht, wie oft ich in den letzten Jahren an allem gezweifelt, wie sehr ich mich als Versager gefühlt hatte. Sie wusste nicht, wer ich war.
Aber: Ich wusste es ja auch nicht.
Der Tag, an dem ich die alte Schule in der 11. Klasse unter Tränen verließ, hatte sich schlimm angefühlt. Und auch die Angst und die Hoffnung, die ich mit dem Neuanfang verbunden hatte, hatten sich tief in mein Gedächtnis eingegraben. Ich war an einem verschneiten Morgen im Frühling 2001 an der neuen Schule angekommen. Schnell hatte ich Kontakt zu einigen Mitschülern. Dieser Neuanfang hatte sich trotz der eisigen Kälte richtig angefühlt. Ich wurde gut in die bestehende Gemeinschaft aufgenommen. Ich habe diesem Moment der Veränderung damals ein melancholisch, hoffnungsvolles Musikstück gewidmet. Dessen englischer Arbeitstitel „reaching“ – zu deutsch „erreichen“ – hat sich bestätigt.
Gibt es eine Lehre, die ich nach diesem langen zeitlichen Abstand ziehen kann? Mir wird klar, dass ich nicht sehen wollte, wie enttäuscht meine Mutter über das Ergebnis war. Sie hat ihren Ehrgeiz nicht auf die schulischen Leistungen ihrer Kinder übertragen können. Und mit dem Heranwachsen der neuen Generation verstehe ich diesen Frust etwas mehr. Hinter dem Wort „ent-täuschen“ steckt allerdings auch die Anerkennung der Realität durch die Wegnahme der Täuschung. Es ist viel wichtiger, dass wir die eigenen inneren Konflikte nicht auf unsere Kinder übertragen. Vielmehr müssen wir als Gesellschaft sowohl den Erwachsenen als auch den Kindern helfen, wieder ein Leben voller Hoffnung und Freude zu führen. In diesen krisengeschüttelten Zeiten klingt das wie eine Utopie. Aber genau deshalb braucht es diese Momente der Reflexion umso mehr.
Ich habe erst spät – zwei Tage vorher – von dem geplanten Jubiläums-Nachtreffen der Schule und des Abiturjahrgangs erfahren. Aus terminlichen Gründen konnte ich nicht daran teilnehmen. Ich habe den Abend fröhlich auf einer Geburtstagsfeier verbracht und mich den Menschen der Gegenwart gewidmet.
Aber ich konnte nicht umhin, ein paar Gedanken zum 20. Jahrestag festzuhalten. Vor ein paar Monaten habe ich die Schule selbst besucht. Ich war mit einem Freund zufällig in der Nähe als mich plötzlich des seltsame Bedürfnis überkam, vormittags einmal in meiner alten Schule zu sein. Der Geruch im Gebäude hatte sich kein bisschen verändert. Das bemerkte ich bereits beim Öffnen der Außentür. Die Schüler hatten Pause und standen vor den Klassenräumen. Sie ignorierten mich, als ich durch die Flure ging. Alles war viel kleiner, als ich es in Erinnerung hatte. Und die Schüler sahen unglaublich jung aus. Waren wir auch so jung damals? Eine Lehrerin sprach mich an. Sie erzählte mir, wie das Kollegium sich verändert hatte und sie hielt mein Besuch für ein positives Zeichen der Schule gegenüber. Ich hätte gerne länger mit ihr gesprochen, obwohl ich wusste, dass sie mir vieles nicht beantworten konnte, da sie noch relativ neu an der Schule war. Wir verabschiedeten uns, sie musste in den Unterricht. Der kurze Austausch hatte mir gut getan.
So hatte ich mein eigenes kleines Jubiläum.
Als ich auf dem Schulhof stand, erinnerte ich mich an die Abschiedsrede unseres Schulleiters. Er hatte uns Mut gemacht, das Leben in die Hand zu nehmen und unsere Freiheit, unsere Chancen zu nutzen. Was würden er und die anderen Erwachsenen heute sagen, die uns damals Ratschläge mit auf den Weg gaben? Haben wir unsere Freiheit genutzt, unsere Möglichkeiten? Ich denke, an die Diskussionen in den Philosophiestunden, in denen wir lange über die Erkenntnistheorie sprachen. Ich erinnere mich an die Geschichte der NS-Zeit und ihre Vorboten. Damals hat mich das ständige Wiederholen dieser Thematik genervt. Aber mit dem über die Jahre gewachsenen und unterschätzten Rechtspopulismus frage ich mich, wie stabil unsere Demokratie ist und wie wir zu einer chancenorientierten, zuversichtlichen Gesellschaft finden. Die Gespräche am Jubiläumsabend hätten sich jedoch wahrscheinlich nicht darum gedreht, denn meistens geht es um die persönlichen Themen und die Wiederaufarbeitung der Lücken.
Vielleicht wäre ich aber auch überrascht gewesen von den guten und tiefgründigen Unterhaltungen. Vielleicht wären die Gruppen von damals ja noch einmal neu gemischt worden. Aber das ist eher unwahrscheinlich. Denn sind wir nicht wieder dieselben, wenn wir uns in einer ähnlichen Konstellation nach so langer Zeit erneut begegnen? Wie sehr können wir uns überhaupt verändern? Müssen wir uns noch immer irgendetwas beweisen? Würde mich das Grinsen der erfolgsverwöhnten Menschen noch heute einschüchtern? Ich fühle mich klein, wenn ich diese Fragen stelle. Vielleicht, weil ich mir ähnliche Gedanken schon damals gemacht habe. Aber jetzt liegen zwei Jahrzehnte dazwischen, in denen ich an Lebenserfahrung gewonnen habe. Heute kann ich besser akzeptieren, dass jeder Mensch einen anderen Erfahrungshorizont, andere Möglichkeiten und andere Wünsche hat. Letztendlich suchen wir alle etwas, an das wir glauben und an dem wir Halt finden können.
Vielleicht möchte ich aus diesem Grund wissen, was sich von den Vorstellungen der damaligen Mitstreiter bislang verwirklicht hat und was nicht. Ich meine das nicht materialistisch. Ich meine zum Beispiel, ob sich das, was wir in Englisch anhand von „Frühstück bei Tiffany’s“ zum Thema Existenz, Liebe und Lebensführung diskutierten, in ihrem Leben erfüllt hat. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto weniger glaube ich, dass diese Bilanz einen wirklichen Nutzen hat, oder dass die Gefragten echte Antworten geben könnten – geschweige denn wollten.
Worum geht es bei diesen Treffen eigentlich?
Ist es vielleicht nur ein Anflug von Nostalgie?
Und warum denke ich so viel darüber nach?
Wäre ich vielleicht doch gerne dabei gewesen?