Mein Großvater mütterlicherseits haderte sein Leben lang damit, dass er infolge des von Deutschland angezettelten Krieges aus seiner Heimatstadt Breslau vertrieben wurde. Immer und immer wieder kam er auf diese Zeit zu sprechen: Die Kriegszeit, die Zeit als Kriegsgefangener, der Neuanfang im Ruhrgebiet. Er hat seine persönliche Geschichte vor seinem Tod für unsere Familie aufgeschrieben und uns so einen Teil seiner Gedankenwelt erhalten.
Das Motiv der Heimat und der Vergangenheit waren bei ihm untrennbar miteinander verknüpft. Auch bei meinem Großvater väterlicherseits ist der Heimatbegriff wichtig. Er hat sich allerdings über Jahrzehnte hinweg aus verschiedenen Gründen nur selten aus der Heimatstadt Dortmund herausbewegt. Er hat viele Veränderungen um sich herum nicht einordnen können, obwohl er belesen ist. Er hat sich bis ins hohe Alter in den 1960er und 1970er Jahren – vermutlich der besten Zeit seines Lebens – buchstäblich eingemauert. Erst mit 90 Jahren nach dem Tod seiner Frau und meiner Oma fing er an, sich stärker für die Gegenwart seiner Familie zu interessieren.
Ich habe zu beiden Großvätern ein freundliches, aber distanziertes Verhältnis (gehabt). Beide sind in Bezug auf ihr berufliches Lebenswerk und ihren Wissensdurst Vorbilder.
Nicht erst die Arbeit an diesem Buch, sondern auch ihr Umgang mit der Vergangenheit und Problemen hat in mir den innerlichen Wunsch gefestigt, Frieden zu finden. Gerade die letzten 10 Jahre waren davon geprägt, diesem Wunsch näher zu kommen.
Die Vergangenheit ist ein Rucksack, den wir, ohne ihn ständig wahrzunehmen, mit uns herumtragen. Deshalb sollte er so leicht wie möglich sein. Viel Vergangenheit bedeutet wenig Zukunft.
In der Mittelstufe gab es eine Phase, in der ich mich nach teilen meiner Vergangenheit zurücksehnte. Ich vermute, dass es der Wunsch war, noch einmal an einem Ausgangspunkt anfangen zu können, ohne das Gefühl der Niederlage, des Verlustes oder wie auch immer verspürt zu haben. Ich wollte zurück in ein Gefühl der seelischen Reinheit, mich nicht schuldig fühlen und mich am liebsten in eine Wolke aus Harmonie und Stärke einlullen. Ich konzentrierte meine Gefühlswelt auf eine utopische Vergangenheitsvorstellung, da ich mich vielen Aspekten der damaligen Gegenwart nicht gewachsen fühlte.
Hat die Vergangenheit eigentlich so viel Aufmerksamkeit verdient?
Auch heute passiert es mir noch ab und an, dass ich in den Katakomben der Vergangenheit verweile. Aber ich merke dann schnell, dass es Gewölbe sind, deren Wandmalereien nur mehr oder weniger emotional aufgeladene Szenen darstellen.
Es gibt Gründe, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, denn viele Menschen kommen nicht über Erlebnisse hinweg und rennen immer und immer wieder in einer Schleife. Der große Nachteil daran ist, dass man nicht merkt, dass man genau in diesem Augenblick eine neue traurige Vergangenheit schafft. Später sagt man dann wieder: warum habe ich so lange daran gedacht, warum habe ich so viel vergangene Zeit in vergangene Zeit gesteckt. Warum habe ich nicht einfach gelebt?
Die Frage ist also mehr: Wie beschäftigen wir uns mit der Vergangenheit?
Würde man beispielsweise andere ehemalige Mitschüler nach den Erinnerungen fragen, die diese auf ein Schuljahr oder eine Episode haben, würde man eine Vielzahl unterschiedlicher Antworten bekommen. Man wird zu ähnlichen Sichtweisen kommen, aber jeder wird seine eigene Bewertung über Schönes und Schlechtes haben und jeder Mensch wird mit zeitlichem Abstand viele Details vergessen haben. Vielleicht sogar die Details, die irgendwann einmal bedeutungsschwer waren.
Jeder Mensch sitzt in seinem eigenen Kino und bestimmt welche Filme er sich wieder und wieder ansehen möchte. Manche legen garkeinen Wert auf alte Filme, andere sind hingegen gerade zu besessen von diesen.
Zum Glück erlaubt uns das Leben, neue Erfahrungen zu sammeln, neue Menschen mit neuen Sichtweisen kennenzulernen, wenn wir dafür offen sind. Sie dürfen das eigene Kino verlassen. Oder sie können sich zumindest neue Filme besorgen.
Erfahrungsreichtum ist wichtig. Dazu gehören gute und schlechte Erfahrungen. Das bedeutet nicht, Dinge schön zu reden. Es bedeutet aber eben auch nicht, dass wir unseren Urteilen vollständig vertrauen sollten, denn oft sind es nur Vorurteile.