Jörg C. Brose
Epilog
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Epilog

Am Ende bin ich nochmal hingefahren*

Ich hatte den Besuch nicht beabsichtigt und erst recht nicht geplant. Eigentlich wollte ich mir den Fortschritt in der neuen Wohnung ansehen und dann direkt wieder zurückfahren. Aber jedes Mal, wenn ich die Allee entlang kam, flogen Erinnerungsfetzen vor mein geistiges Auge, drängte sich mir das Bedürfnis auf, mir noch einmal alles anzuschauen. Doch ich hielt nicht an, ich beschleunigte. Drückte ich mich?

Es gab wirklich keinen Grund, dort hinzufahren. Warum sollte ich mir schlechte Gefühle verschaffen, die ich zweifelsohne oft an diesem Ort durchlebt oder mit nach Hause genommen hatte. Weggefährten gab es dort ohnehin nicht mehr. Kein Foto, keine Urkunde würde in irgendeinem Schaukasten hängen. Und auch die Zeugnisse waren nach so langer Zeit längst vernichtet – gut so.

Ich war reifer, stärker, offener und lebensfreudiger geworden. Längst hatte ich neue Freunde gewonnen, hatte mein Studium abgeschlossen, hatte Arbeit gefunden – ja, hatte ins Leben gefunden. Warum sollte ich also nach 26 Jahren ohne erkennbaren Anlass an diesen Ort zurückkehren? Und wer sagte das?

Erst jetzt fiel mir auf, dass doch etwas aus dieser Zeit geblieben war, ohne dass ich es bemerkt hatte. Es hatte mich so selbstverständlich begleitet, dass es mir nicht mal in den Sinn gekommen war. Hatte es mich hierher geführt? Es war tatsächlich das selbe Fahrrad, zumindest waren es der selbe Rahmen und die selben Speichen.

Ob ich den Fahrradschuppen wiedererkennen würde, indem ich es oft untergestellt hatte? Ich kehrte um.

Der Schulhof lag in stillem trübem Sommergrau und eine angenehme Schwüle hatte sich in die frühen Abendstunden eines Julitages gemischt. Ich fuhr zwischen den Begrenzungspfosten hindurch.

Links lag der Haupteingang zum Schulgebäude, rechts das Toilettenhaus und dahinter der Schuppen. Ich fuhr langsamer. Mitten auf dem Hof hielt ich an und lauschte. Eine seltsame Ruhe lag in der Luft. Die Holzbänke, auf denen wir damals gesessen hatten, waren immernoch die gleichen. Auch die steinernen Tische, in die Gesellschaftsspiele wie Mühle, Schach oder „Mensch ärger dich nicht“ eingelassen waren, erkannte ich wieder. Alles – auch die Tischtennisplatten – wirkte kleiner, harmloser, ja unschuldiger.

Ich stieg ab, setzte mich auf eine Bank und blickte auf mein Fahrrad. Es passte hierhin. Eigentlich war es mir längst viel zu klein geworden und man sah dem Lack die Jahre, die Strecken und die vielen Orte, an denen es gewesen war, an. Doch ich hatte nie eingesehen, mir ein neues Rad zu kaufen. Ich war oft sauer, dass es einfach nicht so schaltete wie ich wollte und dass es immer und immer wieder einen eigenen Kopf zu haben schien. Ich hatte es vor Wut mehrmals in Hecken geschmissen. Ich hatte es sogar einen Monat lang im Keller einer Fahrradwerkstatt versauern lassen, weil der Inhaber mir mitteilte: „Das lohnt sich nicht mehr“. Ich nahm es trotzdem zurück und glücklicherweise fand sich ein Tüftler, der es wieder fahrtüchtig machte. So hatten wir uns trotz der Macken nach langer Zeit aneinander gewöhnt, waren irgendwie zu Freunden geworden.

Was war von mir geblieben? Die Speichen, der Rahmen, die Macken?
War auch ich in all den Jahren zu meinem eigenen Freund geworden?

Ich sah auf den Fahrradschuppen. Wie oft hatte ich hier jenen Schultag begonnen oder abgeschlossen? Jenen Schultag, der genauso grau wie das Gebäude und seine Lehrkräfte anmutete. Noch immer roch es hier nach Autorität, nach Rivalität, nach falschem Gehorsam.

Ich blickte zum Haupteingang. Was erwartete ich? Dass die Lehrer von damals plötzlich aus der Schule kämen, mich hineinzerrten und ich wieder auf jenen hölzernen Stühlen sitzen müsste? Dachte ich, dass meine Mitschüler plötzlich um die Ecke kämen und mich freudig begrüßten, als sei keine Minute seit dem letzten Mal vergangen? Oder sollten sie mich vorwurfsvoll fragen: „Warum bist Du abgehauen?“

In den Pausen hatten wir ab der siebten Klasse oft vor dem Toilettenhaus gestanden. Vor allem, weil es der einzige überdachte Ort auf dem Schulhof war und weil man ja nicht unbeaufsichtigt während der Pause ins Schulgebäude durfte. Ich fand diese Regelung schon damals fragwürdig und entwürdigend.

Überhaupt empfand ich den Aufenthalt und das Miteinander in diesen Räumen immer irgendwie künstlich, ja absurd. Dass viele Lehrer in der Oberstufe begannen, später zu kommen oder früher zu gehen, war mir schon damals aufgefallen. Eigentlich war schon das eine Offenbarung uns Schülern gegenüber. Auch sie wollten sich das zähe und triste Miteinander nicht mehr lange antun. Wie oft hatte ich einem Leben außerhalb dieses Geländes entgegengefiebert? Warum sollte es den Lehrern anders gegangen sein?

Das Schulpersonal war über die Jahre alt und müde geworden. Die Mischung aus den sozialdemokratisch und konservativ geprägten Lagern war ein Vorgeschmack auf die kommenden Jahre der gesellschaftlichen Stagnation. Irgendwann hatte man seitens der Stadt die Idee, dass Mintgrün eine gute Farbergänzung zu Grau sei. Und eines Tages kamen Handwerker, die immer mehr Fenster, Türen und Jalousien dementsprechend austauschten. Jetzt hatte man also nicht nur graue Tristes, sondern graue Tristes mit einem hässlichen, mint leuchtenden Akzent. Hinter diesem Aktionismus sollte vermutlich die eigentliche Botschaft verdeckt werden: „Es ist uns egal, was aus der Jugend wird. Hauptsache, wir können bald in Pension gehen. Auch wir mussten uns quälen. Warum solltet ihr es anders haben?“ Und gleichzeitig erzählte man uns über die Dringlichkeit von sozialen und ökologischen Fragen, man wusste um die Wichtigkeit der Bildung, man wusste alles. Der Verrat an den eigenen Werten konnte irgendwann nur noch durch übertriebene Autorität verdeckt werden.

Hätte ich eher von jenem Ort hier fliehen sollen? Hätte ich schon vorher einfach aufstehen und weggehen können, so wie ich es an jenem Freitagmittag im Januar 2001 endlich tat?

„Wer im Steinhaus sitzt, soll nicht mit Glas werfen“
So – absichtlich falsch – hatte ich mir den Namen des neuen Deutschlehrers Herrn Steinhäuser gemerkt. Bei ihm hatte ich meine letzte Stunde auf dieser Schule. Es ging wie so oft um eine Textbesprechung und wie so oft ging es eigentlich gar nicht um den Text selbst.

Ich mag unsere Sprache, ich mag die unendlichen Möglichkeiten, Dinge auszudrücken und ins Gespräch zu kommen. Aber nichts war öder, als zwanghaft zu versuchen, einen Sinn zu finden, den der Autor niemals in diese Zeilen gelegt haben konnte. Doch Steinhäuser ließ nicht locker. Ich wusste, dass mindestens zwei Mädchen ihn süß fanden und sich deshalb gerne mit tiefem Ausschnitt in die vorderen Reihen setzten. Der Text war ihnen egal, aber sie mochten das Spiel und beteiligten sich rege.

„Jörg, was denken Sie?“ fragte Steinhäuser. Ich wusste, was ich dachte. Doch es hatte nichts mit seiner Frage zu tun. Ich hatte ihm auch nichts zu sagen. Allein die Kombination aus „Jörg“ und „Sie“ nervte mich unendlich. Es zeigte die ganze Verlogenheit dieser öffentlichen Anstalt.

„Jörg?“ hallte es in meinem Kopf.

Ich blickte ihn an. Die Mädchen kicherten. Noch immer schaute er mich an, als glaubte er, dass ich auch nur einen Satz der letzten halben Stunde mitbekommen hätte. Ich hatte genug. Ich stand auf, packte meine Tasche. Die Mädchen verstummten. Ich ging zu Tür und öffnete sie. Ich drehte mich um und spürte, wie alle Blicke nun auf mir lagen. „Tschüss“ sagte ich leise, während ich ruhig in den Raum blickte. Ich schloss die Tür.

Wenn ich die Schule wechseln wollte, musste ich nun schnellstens meinen Vater erreichen. Das Halbjahr, in dem ich vier Fünfen auf meinem Zeugnis bekommen würde, neigte sich in wenigen Stunden dem Ende.

Ich wurde schneller, lief die Treppe hinunter. Noch konnte ich die Tränen zurückhalten. Ich stieß die Außentüren zum Schulhof knallend auf und rannte zwischen den Begrenzungspfosten hindurch zur Straße.

Tränen der Wut und der Verzweiflung schossen mir ins Gesicht. Warum hatte ich so lange mit der Entscheidung gewartet? Warum hatte ich mir das so lange angetan?

Es brauchte einen Moment, bis ich mich etwas beruhigen konnte. Ich zückte mein Handy und rief meinen Vater an, der gerade auf Dienstreise war. Noch immer schluchzte ich. „Ich will die Schule wechseln, ich will dahin, wo Basti hingeht!“

Nach fünf Jahren auf dieser Schule verließ ich am letzten Tag des Halbjahres das sinkende Schiff quasi in letzter Minute und rettete mein Abitur. Die neue Schule hatte schon einige flüchtige Schüler und sogar eine ehemalige Lehrerin aufgenommen. Jahre später war die Zahl der wechselnden Schüler so groß, dass man zwischen den Schulen ein „Abkommen zur Wahrung des Schulfriedens“ schloss.

An diesem Freitag lernte ich, dass man für die eigenen Werte einstehen sollte und dass die Grundlage des Glücks Selbstliebe ist. Wenn wir passiv sind oder andere über unser Leben bestimmen lassen, begehen wir nicht nur Verrat. Wir unterstützen Systeme, in denen Unterdrückung und toxische Rivalität gefördert werden. Die Ergebnisse davon sehen wir mittlerweile deutlicher denn je in der Gesellschaft.

Vielleicht war mancher Brunnen meiner Kindheit und Jugend vergiftet.

Vielleicht habe ich deshalb oft lieber opportun als integer gehandelt.

Vielleicht musste aber auch alles so passieren, damit ich mein Leben nicht als „Mann am Fenster“ – wie ich es einmal nannte – begriff.

Die Schleier der Zeit haben sich über die Jahre gelegt. Das krebserregende Asbest, das lange in den Böden und Decken dieser Schule klebte, wurde vermutlich entfernt. Man findet es aber heute noch in manchen Lungen. An unserm Schulsystem hat sich nichts grundlegendes geändert.

Noch heute berühren mich jene Schultage in seltsamer Weise. Den Schmerzen von damals ist ein gelegentliches Grummeln gewichen. Und mit steigendem Abstand sehe ich mehr und mehr das Gute in dieser Zeit. In der Luftbildarchäologie erzählt man die Geschichte der Menschheit schließlich auch nur anhand der Färbungen und Reliefe im Boden. Ist nicht jeder Blick auf die Vergangenheit also irgendwann verklärt? Muss man nicht jede Zeit in einem eigenen Kontext und einem eigenen Selbstbild verorten?

Ich war weiß Gott kein Außenseiter und trotzdem habe ich mich oft so gefühlt. Ich war beliebt, gefragt und manchmal auch froh, Teil dieser sich selbst für elitär haltenden Schule zu sein. Über diese Nichtigkeit mache ich mir heute allerdings keine Illusionen mehr. Wahrscheinlich wollte ich auch manchmal außen stehen, um besser nach innen sehen zu können und um mich nicht vereinnahmen zu lassen.

War das der Grund, warum ich zurückgekehrt war? Konnte ich endlich alles – alles Gute und Schlechte – was hier geschehen war nach so langer Zeit verstehen? Konnte ich es akzeptieren?

Ich stand auf und schob mein Fahrrad zum Schuppen. Erst jetzt hörte ich, dass irgendwo in der Nähe Kinder spielten. Ja! Lautes Kinderlachen drang herüber, aber niemand war zu sehen. So musste es sich oft in den Pausen oder nach der Schule angehört haben, wenn alle sich auf den Heimweg machten. Ich stand vor dem Schuppen und sah hinein. Nein, hier hatte sich nichts verändert.
An einem sonnigen Tag hatte ich dort hinten einen der schönsten Liebesbriefe auf dieser Schule bekommen. Er klemmte in einem Umschlag an meinem Gepäckträger. Ich bewahre ihn bis heute in meinem ersten Tagebuch auf. Es ist ein hellblauer DINA5 Zettel, der liebevoll mit dunkelblauer Tinte beschrieben ist.

„Hallo Jörg,

Wartest Du heute an der 1. Tischtennisplatte auf mich?“

[ ] JA
[ ] NEIN

(Wenn Du Dein Fahrrad mit hast)

Deine Susanne

PS: Gib mir den Zettel in der 2. großen Pause wieder!

*In Anlehnung an „Bernhard Schlink – Selbs Mord“