11.11.2013, 16 Uhr – Treffen mit Prof. Dr. Friske
Als ich den Parkplatz betrat, erkannte ich den roten Volvo wieder, der ihm gehörte. Es war immer noch derselbe wie vor vielen Jahren. Ich freute mich, dass der Termin endlich stattfinden würde und ging die Treppenstufen hinauf. Die Hochschule, die die Räumlichkeiten eines ehemaligen Militärkrankenhauses nutzt, war hell erleuchtet.
Als ich die Tür öffnete, kamen mir die bekannten Gerüche und Geräusche in den Sinn. In der Cafeteria saßen Studenten, redeten und tippten emsig auf ihren Notebooks herum. Allein der Anblick weckte in mir ein bekanntes Gefühl, das seltsame Unbehagen, das ich in dieser Denkfabrik oft gespürt hatte. „Ein Glück, dass ich mich hier nicht mehr behaupten muss“ dachte ich. Und tatsächlich war das Unbehagen etwas milder als in der Vergangenheit.
Eine attraktive Studentin kam mir entgegen und blickte mich an. Früher hätte ich schnell weggeschaut, aber ich hielt den Blickkontakt und grüßte sie wie selbstverständlich. „Ja, ich bin souveräner geworden“ dachte ich mir, doch für mehr war keine Zeit. Herr Friske, mein damaliger Diplomprüfer und Lieblingsdozent, wartete in seinem Büro im 3. Stock auf mich. Ich ging zum Fahrstuhl.
So wie ich den Knopf gedrückt hatte und der Lift sich in Bewegung setzte, begann ich innerlich zu grinsen. Noch einmal rollten die Bilder der sieben Studienjahre vor meinem inneren Auge ab: Die vielen Kilometer, die ich allein mit Bus und Bahn gefahren war, die vielen Stunden, die ich mit Kommilitonen oder allein in diesen Räumen verbracht hatte, die niemals endende Liste an Aufsätzen, Büchern, Skripten. Wie hatte ich das alles geschafft? Und auch wenn mein Diplom länger als bei anderen gedauert hatte, so brauchte ich mich keineswegs dafür zu schämen, ganz im Gegenteil.
Doch ich war nicht gekommen, um stolz zu sein oder um mit mir über meine Leistungen zu verhandeln. Und ich war auch nicht gekommen, um auf das, was vor drei Jahren glücklich endete, zurückzublicken.
Friske bat mich herein. „Und sie werden Vater?“ begrüßte er mich. Der direkte Einstieg mit einer persönlichen Frage gefiel mir. „Ja, nicht nur mein Bauch wächst“ gab ich lakonisch zurück. „Ja, Sie sind fetter geworden“. Ich lachte – wohl wissend, dass er es nicht böse meinte- und nahm den Ball auf: „Naja, wenn man den ganzen Tag pendelt oder im Büro sitzt, hat man fast keine Option“. „Ich kenne das“ sagte er verständnisvoll. Wir setzten uns. „Während meiner Studienzeit und auch danach habe ich viele Stunden auf der Autobahn verbracht.“ Er erzählte über seine Zeit, in der er zwischen Münster, Dortmund und Gelsenkirchen gependelt war. Dieses Dreieck hatte einen großen Teil seiner damaligen Lebenszeit ausgemacht.
„Was führt Sie zu mir?“ fragte er. Natürlich hatte ich die Frage erwartet. Eines meiner Motive war es, ihn wegen einer möglichen Stelle als Dozent zu fragen. Aber bereits in den ersten Minuten wusste ich, dass ich nicht deshalb gekommen war. „Ich kann mir vorstellen, hier als Dozent zu arbeiten und wollte diese Möglichkeiten mal mit Ihnen ausloten.“
Zunächst ging Friske wie selbstverständlich auf meine Frage ein. „Sie wissen, wie ich, dass es sicher nicht leicht ist, eine dieser Stellen zu ergattern. Aber ich denke, dass der Weg über eine Promotion aussichtsreich sein könnte. Es wird wahrscheinlich nicht reichen, es als Hilfskraft oder Seiteneinsteiger zu probieren. Dafür sind die Stellen hier viel zu begehrt.“ Ich hatte diese Antwort erwartet. Und auch wenn meine Leistungen im Studium und in meinem Diplom gut gewesen waren, so wusste ich, dass der Weg auf dieser Karriereleiter deutlich mehr Abstriche bedeuten würde. „Ich traue ihnen das absolut zu, aber bedenken Sie auch, dass ihr Privatleben dazu passen muss.“ Er erzählte, wie schwer sich manche Partnerin mit seiner Lebensführung während der Doktorarbeit getan hatte. Der teils schmerzhafte Prozess hatte in seinem Fall mit 32 Jahren begonnen und nach fünf Jahren glücklich geendet.
Ich verstand ihn, denn auch bei mir gab es schon jetzt Schwierigkeiten, meine Ansprüche, meine Ziele und meine junge Familie zusammenzubringen. Ich erzählte ihm, dass ich in Düsseldorf bei einer großen Medienagentur untergekommen war, dass der Spagat auch schon jetzt schmerzhaft war und dass zwischen dem, was ich tat und dem was ich tun wollte, Welten lagen. Ich hatte meinen Kompass verloren. Der holprige Start in Hamburg, die Umzüge, die Geburt meines Sohnes und der neue Job in Düsseldorf hatten Kraft gekostet.
„Sie haben sich verändert“ konstatierte Friske nüchtern. Ich fühlte mich auf eine angenehme Weise ertappt.
Nach einer kurzen Pause sagte ich: „Ja, das habe ich. Ich bin ruhiger geworden.“
„Sie sind ruhiger und trauriger geworden“ präzisierte er.
„Ja, das stimmt.“
„Dann sollten sie den Job definitiv wechseln oder wie sie es vorhin angedeutet haben, zumindest die Stunden reduzieren und andere Dinge parallel vorantreiben.“
Hatte er tatsächlich nur das wiederholt, was ich – anscheinend – ein paar Sätze zuvor gesagt hatte? Hatte ich meine eigenen Worte überhört? Hatte ich meinen eigenen Worten nicht getraut? War ich immer noch der Student, der Absolvent, der Unreife?
Friske blickte mich an. Sein Kopf, war wie so oft rot, die Brille etwas schief, sein immer etwas zauseliger Bart gefärbt von den Zigaretten. Er sah meistens überarbeitet aus, aber er verlor, solange ich ihn kannte, nie ein falsches Wort, egal wie genervt oder müde er war. Er sah, dass ich entmutigt war, auch weil es keinen einfacheren Weg gab, den er mir anbieten konnte. Aber er fand auch jetzt die richtigen Worte; Worte, die ich nie mehr vergessen würde:
„Ich kann mir sie an dieser Stelle hier auch gut vorstellen. Und wenn ich mir den demographischen Wandel ansehe, dann denke ich mir, dass auch ich irgendwann einmal adäquat ersetzt werden muss.“
Ich spürte, dass er es ernst meinte, dass er mir damit nicht nur ein Kompliment machen wollte. Und es rührte mich – kurz – denn noch bevor mein Ego sich erheben konnte, hatte er schon die nächste Salve vorbereitet:
„Auch wenn mich zu ersetzen natürlich fast nicht möglich ist.“
„Das ist wahr. Ich halte mich auch an vielen Stellen für unersetzlich.“ Wir lachten.
Wir waren auf einer Linie und das machte mich froh. Es war einfach gut, mit jemandem auf Augenhöhe reden zu können. Ohnehin waren wir uns in der Vergangenheit oft einig gewesen: Politisch, gesellschaftlich und journalistisch. Wie ich, war er ein starker Befürworter des öffentlich-rechtlichen Journalismus und wahrscheinlich trieb ihn auch immer der Wunsch, etwas Positives bewirken zu können.
Nach 90 Minuten verblieben wir damit, dass ich mir über diesen Weg Gedanken machen und mein Vorhaben mit Prof. Schröder besprechen sollte.
Wir fuhren hinunter zur Cafeteria. Ich holte mir einen Cappuccino, während er schon einmal seine Zigarette draußen in Brand steckte. Wir ließen das Gesagte Revue passieren, sprachen über das, was sich in den letzten Jahren verändert hatte und über die Bedingungen, unter denen er jetzt arbeitete. Es ärgerte ihn, dass er sein Büro nicht mehr allein nutzen konnte. Ich hatte also viel Glück gehabt, dass wir lange und ungestört an diesem Tag hatten reden können. Wenn junge Menschen jetzt zu ihm kamen, um ihr Herz auszuschütten, gab es oft keine Privatsphäre mehr. So konnten sie ihm ihr Herz über ernsthafte Themen, wie psychische Probleme oder die Krebserkrankung eines Familienmitglieds oft nicht mehr ungestört mitteilen. Ich wusste, dass vielen Dozenten solche Umstände egal waren.
Friske war immer bodenständig und nahbar geblieben. Die oft scheinheilige Welt der Privatuni hatte auf ihn nicht abgefärbt.
Nachdem die Zigarette aufgeraucht war, verabschiedeten wir uns am Fahrstuhl. Ich dankte ihm, dass er sich Zeit genommen hatte und ging frohen Mutes in Richtung Parkplatz. Wieder sah ich das rote Auto und musste grinsen. Die Luft war nicht mehr so schwer an diesem Ort wie in der Vergangenheit. Die Distanz zwischen Dozent und Alumni war wieder einmal kleiner geworden. Das Gespräch hatte mir gutgetan.
*Für Hans-Jürgen Friske (* 15. Oktober 1950; † 20. Januar 2024 in Münster). Danke für alles, was Sie für die Gesellschaft, für den Journalismus, die Medienforschung und für Ihre Studenten getan haben. Mögen Sie in Frieden ruhen.