Neben mir saß Anne. Sie bemerkte, dass ich kaum aufhören konnte zu weinen. Und obwohl ich es nicht musste, entschuldigte ich mich bei ihr. Sie sagte nichts, begann aber in ihrer Tasche zu kramen und bot mir ein Bonbon und Taschentücher an. Ich nahm beides und nickte dankbar, konnte aber nichts sagen. Ich schniefte und versuchte, ruhiger zu werden. Hoffentlich würde sie mich nicht die ganze Zeit anstarren. Ich blinzelte nach links. Sie blickte auf ihr Handy. Es war gut, dass sie abgelenkt war. Ich schätzte sie auf Mitte 50. Sie war klein und hatte eine seltsam anmutende esoterische Aura. Erst jetzt bemerkte ich, dass ihr Gesicht entstellt war. Ihre Lippe und ihre Nase waren aufgequollen. Doch sie ließ sich nichts davon anmerken. Ihre zurückhaltende Art hatte etwas Würdevolles, etwas ungewollt Bemerkenswertes. Ich wurde etwas ruhiger. Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich das was hinter mir lag aufschreiben wollte. Vielleicht würde es mir helfen, einen klaren Kopf zu bekommen.
Doch ich hatte keine Lust auf Sachlichkeit – keine Lust zu denken, zu reden, zu funktionieren. Und vor allem war ich froh, mich nicht erklären zu müssen. Alles würde gut werden. Wir rollten Richtung Startbahn. Der Pilot gab der Crew die letzten Anweisungen, dann war es soweit. Das Flugzeug beschleunigte und hob ab.
Die letzten 24 Stunden waren aufreibend gewesen. Die zu warmen Tage des Septembers hatten einen zu kalten Oktober herbeigerufen und dieser klopfte mit starkem Wind und Regentropfen an die Fensterscheiben meiner Wohnung. Betäubt vom Alkohol, von den sinnlosen Gesprächen eines Samstagabends in einer Bar, war ich nach Hause gegangen, aber ich konnte nicht schlafen. Der Kopf spuckte endlose Gedankenketten, die auch nach mehrmaligen Aufzeichnungen von Sprachmemos – einer sonst sehr erfolgreichen Praxis meinerseits – nicht enden wollten. Ich hatte mich wieder einmal in einer Beziehung verrannt, die ich weder retten noch loslassen wollte. In mir waren Wut, Trauer und Gedanken, die man besser für sich behält.
Nichts von allem was ich in den letzten Monaten erlebt hatte, schien mir erstrebenswert, erfüllend, sinnstiftend. Ich war leer und doch voller Emotionen. Es war vier Uhr morgens als ich beschloss, dass ich verreisen wollte. Es sollte nur ein kurzer Trip sein, nichts Großes. Ich würde den Zug nehmen, in eine andere Stadt fahren, dort übernachten und in einer besseren Verfassung zurückkehren. Ich brauchte Abstand, auch wenn ich am liebsten einfach nur geschlafen hätte, bis sich alles in mir wieder beruhigt hatte, bis ich endlich loslassen konnte.
Natürlich musste ich am nächsten Tag arbeiten und ich musste bald ein wichtiges Projekt abschließen. Auch mein Geschäftspartner und Freund zählte auf meine Unterstützung in unseren Immobilienprojekten. Aber er würde Verständnis haben, wenn ich es ihm erzählte. Und das Problem mit der Arbeit würde ich auch irgendwie in den Griff bekommen.
So packte ich meinen Rucksack – Unterhose, Socken, T-Shirt – mehr nicht.
Ich räumte die Wohnung auf und hoffte, die innere Aufregung damit loszuwerden. Doch ich war zu unruhig, um wie ein Elefant, den man zu lange an einen Baum angebunden hatte, still stehen zu können. Gegen 9 brach ich auf und fuhr zum Dortmunder Hauptbahnhof. Mitten in dieser beschaulich wirkenden Betriebsamkeit, dem rastlosen Hin- und Herlaufen und der hallenden Geräuschkulisse fühlte ich mich für einen kurzen Moment besser. Ich realisierte, dass alle anderen Menschen hier ein Ziel vor Augen hatten, eine Destination, vielleicht auch eine Heimat? Ich stand vor der riesigen Abfahrtstafel und konnte mich nicht entscheiden. Alles wirkte wie die Ziehung von Lottozahlen, nur dass es hier irgendwie nichts zu gewinnen gab.
Ich kaufte Kaffee – sinnloserweise, denn ich hatte mir bereits welchen mitgenommen – etwas zu Essen und wartete. Auf was eigentlich? Keins der angeschlagenen Ziele machte mich neugierig. Ich wusste nicht wohin und ich wusste auch nicht mehr, warum ich weg wollte. Hatte ich nicht ohnehin schon alles gesehen? Wusste ich nicht schon alles über die Menschen, ihre Schwächen? Wusste ich nicht, dass man sowieso niemals ohne sich selbst reisen kann?
Ich kannte diese Versuche, mich von neuen Erfahrungen abzuhalten. Ich kannte die Selbstsabotage. Ich war an der Grenze meiner Komfortzone angelangt. Und wie ein Magnet versuchten meine Gedanken jetzt, mich hier zu behalten und die positive Selbstbehauptung – oder meinen Egotrip – zu konterkarieren.
Ich brauchte etwas Neues, ich wollte etwas Neues, oder zumindest etwas weniger Gewohntes. Ja, das klang besser – denn „neu“ war hier nichts – nicht einmal der Wunsch zu verreisen. Der RE3 nach Düsseldorf fiel mir ins Auge. Immerhin war ich diese Strecke über Oberhausen nicht so oft gefahren wie die anderen über Bochum, oder Hagen. Vielleicht würden von dort aus neue Verbindungen zu erkunden sein, vielleicht würde etwas passieren, dass ich nicht bereits vorweg gedacht hatte. Der Zug war voll, laut und stickig. Ich musste einige Wagen durchqueren, bis ich einen freien Vierer fand auf dem ich mich fallen ließ. Kaum saß ich, heulte der Motor auf und der Zug setzte sich in Bewegung.
Ich war es so leid, dieses Gefühl der Flucht, des Weglaufens, des ständigen Kämpfens. Warum führte ich immer noch oder immer wieder diese Beziehung, obgleich ich wusste, dass ich auch diese Partnerin im Grunde meines Herzens nicht liebte. Aber wenn ich sie nicht liebte, warum war ich dann eifersüchtig auf ihren alten Schwarm, den sie zu allem Überfluss auch noch zu ihrem Geburtstag eingeladen hatte? Nach und nach überkamen mich die Erinnerungen der letzten Monate, die Wut über das Gefühl der Unfähigkeit, eine gute Beziehung mit ihr zu führen und das Leben in Balance zu halten. Welche Schuld hatte ich daran, wenn ihre Emotionen und ihr Leben nicht zu meinem passen wollten? Und welche Schuld hatte sie? Ging es wirklich um Schuld? Nein – Niemand schuldete dem anderen etwas.
Es war gut, dass wir ehrlich miteinander waren. Ich war sogar manchmal stolz darauf, dass wir nach so vielen Konflikten noch immer zusammenhielten und uns durch manche Krise hindurch manövriert hatten. Aber jetzt waren wir an einem Punkt angelangt, an dem es einfach nicht mehr weiterging – wieder einmal. Ich täuschte mich – vielleicht mit Absicht. Ich wusste, wie ich agieren musste, um ihre Emotionen zu manipulieren. Wollte ich es noch einmal wissen? Wollte ich mich wieder als Sieger fühlen? Was sollte das für ein Sieg sein? War ich ihr nicht sowieso überlegen? Ich wollte das nicht denken, aber ich dachte es. Noch immer fühlte ich mich betrunken – nicht nur vom Alkohol.
Ich drehte die übliche melancholische Klaviermusik lauter und das Rattern des Zuges über die Schienen ließ mich ruhiger werden. Ich fühlte mich wie ein Kind, dessen Kinderwagen man hin und her wackeln ließ. Nach und nach wurde ich müde und mit einem Mal fiel alles wie ein Kartenhaus in mir zusammen. Ich entspannte mich und schlief ein.
Landschaften zogen an mir vorbei, Leute kamen und gingen, ohne dass ich es merkte. Ich träumte nichts. Nur die Musik in meinen Ohren lief auf Dauerschleife und das Klavier hämmerte sanft in meinen Gedanken.
Das Nächste, was ich hörte, war „Nächster Halt: Düsseldorf Flughafen“.
Ich hatte vergessen, dass der RE3 über den Flughafenbahnhof fuhr. Ich war selber überrascht, dass ich überrascht davon war. Um mich herum wurde es hektischer. Reisende standen auf, packten ihre Taschen und bereiteten sich wie selbstverständlich auf den Ausstieg vor.
„Ausstieg“ brummte es in meinem Kopf. Ja, irgendetwas war da in mir. Ein Gedanke, dass ich jetzt etwas Besonderes machen wollte. Wollte ich das? Die Vorstellung, an einem Flughafen zu stehen, spontan ein Ticket zu kaufen und wegzufliegen ergriff mich – magisch. Die Selbstinszenierung einer Flucht, eines Sprungs ins kalte Wasser, in die Distanz und die Unerreichbarkeit klangen pathetisch, mächtig. Ich war von meinen eigenen Gedanken beeindruckt.
Ich würde nicht mehr passiv zuschauen, nicht mehr mit mir umspringen lassen. Ich würde nicht mehr für andere den Dreck wegräumen und mich herum schubsen lassen. Ich würde meine eigene Realität schaffen, meine Werte leben, meine Situation manifestieren. Ich würde gehen, weg sein und nichts hinterlassen. Was für ein trotziges Kind ich war. Aber genau das war es doch, was ich wollte oder nicht? Ich wollte ein besonderes, ein aufregendes Leben, von dem ich erzählen konnte. Doch viel mehr ging es noch um etwas anderes: Ich wollte mein altes Ich verlieren, um mein richtiges Ich zu finden. Und dafür brauchte es Mut, Grenzüberschreitung, ich musste spüren, dass ich bereit war, mein Leben selber in die Hand zu nehmen. Ich musste mich meiner selbst ermächtigen.
Doch es war fast zu spät. Die Türen piepsten bereits während ich mich schon als König unter Palmen wähnte. Ich sprang auf, spürte das Pochen an meine Schädeldecke, griff hastig nach dem Rucksack und rannte zur schließenden Tür. Im letzten Augenblick stürzte ich hinaus auf den Bahnsteig.
Immer passierte in meinem Leben alles in letzter Sekunde. Ich brauchte einen Moment, bis mein Kreislauf wieder in Schwung kam. Und während der Zug sich bereits in Bewegung setzte und wie ich begriff, was ich mir vorgenommen hatte, begann ich zu weinen. Ich heulte, wie ich seit dem Tod meiner Oma nicht mehr geheult hatte. Unaufhaltsam, reinigend, schmerzend, krampfend. Ich weinte auf der Rolltreppe, ich weinte im Skytrain, ich weinte in der Abflughalle. Die ganzen letzten Jahre, die kaputten Beziehungen, die Demütigungen, die Dummheiten, die Verluste, die Wahrheiten, die Orientierungslosigkeit. Es war so viel in mir was sich aufgestaut hatte, dass ich kaum mehr aufhören konnte.
Und obwohl es traurig war, war es wohltuend und erlösend. Wie ein Kleinkind lag ich in meiner Wiege, ich weinte und tröstete mich, ich verstand mich und hörte mir zu. Die Schwäche war keine Schwäche. Sie war die Grundsteinlegung eines neuen authentischeren Lebensabschnitts.
Zwar war ich schon einige Male in meinem Leben geflogen, doch der letzte Flug war lange her.. In diesem Fall war es umso besser, da mich die Situation aus meiner Gewohnheit riß. Ich stand vor einer der Abflugtafeln. Wie selbstverständlich standen dort alle möglichen Reiseziele. Unschlüssig suchte ich nach irgendeinem Sinn, einer Strategie. Afrika: Zu Weit weg, Deutschland: zu nah. Was machte ich hier eigentlich? War ich völlig verrückt geworden? Ich versuchte über mein Handy, Flugpreise abzufragen aber aus irgendeinem Grund funktionierte das WLAN nicht. Die Zeit rannte mir davon. Die Auswahl hing zwischen verschiedenen europäischen Metropolen. Auch Kiew war darunter. Im Nachhinein ist es schade, dass ich mich nicht dafür entschied – doch dazu später.
Ich ging zum erst besten Ticketschalter, hinter dem zwei Männer saßen und gerade in ein Gespräch vertieft waren. Einer von Ihnen bemerkte mich und fragte, was ich wollte. Ich stammelte, dass ich einen Preis für einen Flug bräuchte.
„Welches Reiseziel, wie lange?“
„Stockholm, bis Dienstag“ antwortete ich unüberzeugend.
„Sie wollen sofort fliegen?“
Wollte ich das?
„Ja“ zitterte meine Stimme. Ich hatte es wirklich gesagt.
„Für 450 Euro hin und zurück, aber sie müssen sich sehr beeilen. Der Flug geht in 50 Minuten“.
„Kann ich mit Karte zahlen?“
„Leider gerade nicht, aber sie gehen dort zum Fahrstuhl und eine Etage tiefer holen sie das Geld. Ich mache in der Zeit alles fertig.“
Wieder zögerte ich.
„Machen wir es so?“ versetzte er,
„Ja, machen wir.“
Ich ließ ihm meinen Personalausweis da und rannte zum Fahrstuhl.
Natürlich wollte der Geldautomat meine Kreditkarte nicht. Also musste ich fünf Euro Gebühren zahlen, um das Geld zu bekommen. Aber auch das war mir jetzt egal. Es wird der Tag kommen, an dem ich den deutschen Banken Schmerzensgeld in Rechnung stellen werde für entgangene Lebensfreude und Überweisungen, die in Zeiten von PayPal länger als drei Tage dauern. Abgesehen von tollen Öffnungszeiten und … ach lassen wir das.
Ich hatte mich entschieden. Ich würde es durchziehen, ich würde es machen.
Ein Lächeln kam über mich. Ein überwältigendes Gefühl der Selbstbehauptung, der Stärke, der Überlegenheit dem eigenen Schicksal gegenüber.
Zurück am Ticketschalter hatte der Mann bereits alles ausgedruckt. Ich zahlte und er sagte: „ich bringe sie schnell zum Check-In. Wir müssen uns beeilen.“
Schnell rannten wir auf die andere Seite der Halle. Die erste Dame des Lufthansa Personals meinte, dass es sehr kurzfristig sei und dass wir zu ihrer Vorgesetzten gehen müssten. Also eilten wir herüber und er gab der Dame Anweisungen, dass ich noch eingecheckt werden müsse.
Ich fühlte mich, als säße ich selber auf einem Gepäckband, dass ins Rollen gekommen war. Ich war eingecheckt. Der Ticketverkäufer wies mich an, mich schnellstens in den Sicherheitsbereich zu begeben und zeigte mir die Richtung. Ich dankte ihm vielmals und herzlichst. Ich rannte los.
Die Schlange war lang, aber gottseidank ging es schnell voran. Plötzlich fiel mir ein, dass ich mir für die Zugfahrt Wasser und frischen Kaffee mitgenommen hatte. Ich war überhaupt nicht aufs Fliegen eingestellt. Musste ich meinen Becher jetzt wegwerfen? Doch ich hatte den vollen Becher schon am Mund und trank ihn in wenigen Zügen aus. Ich liebe Kaffee, aber einen ganzen Becher auf einmal zu trinken, war dann doch zu viel. Jetzt war da nur noch das Wasser in der Metallflasche meiner Ex-Freundin. Ich konnte nicht auch das noch trinken, ohne dass ich hätte kotzen müssen. Ich fragte die Sicherheitskraft, was ich mit dem Wasser machen könne, wenn ich es nicht austrinken wollte. Sie rollte die Augen. Ich sagte, dass es mir leid tue und ich sehr spontan hier gelandet sei. „Machen sie es unauffällig. Schütten Sie das Wasser in den Mülleimer dort hinten.“ Ich wusste zwar nicht, wie man unauffällig Wasser in einen Mülleimer schüttet, aber ich tat es. Durchgeschwitzt von Kaffee und Stress legte ich alles auf das Sicherheitsband.
Ich war jetzt schon völlig fertig. Endlich war ich durch die Sicherheitskontrolle und wieder weinte ich. Ich ging durch die Shoppinghallen, die Klaviermusik im Ohr. Ich konnte nicht aufhören, traurige Dinge zu denken. Ich konnte nicht aufhören, mich einsam und verlassen zu fühlen. Aber gleichzeitig wusste ich, dass das hier mein großer Moment war. Und ich genoss das Weinen.
Die seltsame Mischung aus Traurigkeit und Glücksgefühlen, aus Schwäche und Stärke ist mir noch heute erstaunlich positiv in Erinnerung. Alles in mir begann, sich neu zu formen.
Am Gate standen junge Paare. Sie freuten sich auf ihren Urlaub, kuschelten, lachten.
Es tat unendlich weh, ihr Glück zu sehen und es ihnen zu gönnen. Sie konnten nichts dafür, dass ich unglücklich war. Und trotzdem wünschte ich mir so sehr in diesem Augenblick, nicht allein zu sein.Aber: ich war es.
Das Flugzeug stand bereit. Nach und nach wurden die Reihen aufgerufen. Ich sah den Flieger, glänzend, verheißungsvoll, monströs, aufregend – schön. Ich packte ein Foto in den Whatsapp-Status, schrieb der Mutter meines Sohnes und meinem Geschäftspartner, dass sie sich keine Sorgen machen sollten. „Ich brauche einfach ein bisschen Ruhe“. Dann meldete ich mich ab und ging zur Gangway.
Erst gegen Ende des Fluges sprach Anne mich an. Sie besuchte ihre Tochter, die sich als Turnerin hier in Schweden eine Existenz aufgebaut hatte. Es war also nicht das erste Mal für sie in Stockholm. Sie kannte den Weg ins Zentrum und beriet mich dabei, welches Ticket ich kaufen sollte. Und weil unser Gesprächsfaden nicht abriss, gingen wir gemeinsam hinaus zum Bus. Es war sonnig, der Wind war kühl und machte mich wach. Mehr und mehr realisierte ich, dass ich tatsächlich weggeflogen war. Ich war stolz auf mich und auch froh, dass Anne in diesem Augenblick wie eine gute Freundin unverhofft an meiner Seite war. Ich war neugierig, wie es zu den Wunden in ihrem Gesicht gekommen war, aber ich traute mich nicht, sie zu fragen. „Sei nicht feige“, dachte ich und ließ die Neugier siegen.
Annes Sturz auf die Nase war aus heiterem Himmel passiert. Vor einer Woche war sie von einem auf den anderen Augenblick auf dem Bordstein ausgerutscht, konnte sich aber nicht mehr rechtzeitig fangen. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie diesen Unfall schilderte, ließ mich erahnen, dass sie es schon dutzende Male hatte erzählen müssen. Doch sie beklagte sich nicht. Sie nahm es, als sei es gegeben. Und je mehr ich mit ihr redete, desto mehr wusste ich, dass das nicht die erste Wunde war, die sie in ihrem Leben zu heilen hatte. Vielmehr schien es so, als sei es ihre Aufgabe, immer wieder eine Prüfung nach der anderen bestehen zu müssen. Ihre Stimme, ihre Gestik und ihre Mimik verrieten es mir.
Nachdem wir ein Stück mit dem Bus zurückgelegt hatten, wechselten wir in den Zug. Anne erzählte mir von ihrer gescheiterten Ehe, von ihrem Leben als Malerin im Essener Atelier, von den zermürbenden Jahren der Trennung und den Eskapaden ihres Ex-Mannes. Ich lauschte geduldig, immer darauf aus, jene Details zu hören, die auch auf meine Situation passten. Ihre Geschichte klang wie ein großes Seufzen, wie die Fahrt auf einer Autobahn, bei der es viele Möglichkeiten gegeben hätte, eine Ausfahrt zu nehmen. Aber Anne schien nicht verbittert darüber zu sein.
Es war, als wollte sie mir sagen, dass auch alles Schmälernde etwas Würdevolles, dass auch alles Graue etwas Farbiges hat. Und diese Feststellung stimmte, auch wenn sie es so gar nicht gesagt hatte. Vielleicht wollte ich sie aber auch in ihrer Rolle als Malerin, als „überlebende Künstlerin“ sehen.
Ich mochte sie – nicht weil sie für mich als Frau interessant war. Vielmehr gab ihre spontane Gegenwart meiner Unternehmung einen Sinn, eine Art Rechtfertigung. Keiner von uns hatte Vorurteile über den anderen und doch hatte ich das Gefühl, dass sie meine Geschichte kannte, ohne dass wir uns jemals vorher gesehen hatten.
Doch heute frage ich mich: War es vielleicht auch die Tatsache, dass sie mehr gelitten hatte als ich? War es der Umstand, dass sie älter war und dass ich vielleicht noch bessere Entscheidungen treffen konnte als sie? War ich ihr überlegen? Nein – ich wollte nicht vergleichen, nicht aufwiegen.. Ich wollte mich öffnen.
Anne lud mich ein, mit ihr in den nächsten Tagen das Fotomuseum „Fotografiska“ zu besuchen. Fotos gegen Grautöne – das klang gut.
Ich freute mich, dass ich nicht alles selber herausfinden musste. Es war gut zu verstehen, dass man mit Freundlichkeit und Empathie unbeschwerte, neue Erfahrungen machen konnte, dass meine Begrenzung des Horizontes selbst gewählt war. Als wir uns am Hauptbahnhof in Stockholm vorläufig verabschiedeten, dankte ich ihr mit einer kurzen Umarmung. Ich setzte die Kopfhörer auf und schritt auf die aufsteigende Rolltreppe. Die beschwingte Musik katapultierte meine Stimmung nach oben. Es war ein Moment der Selbsterhebung. Ich genoss das Wandern durch die unbekannten Straßen. Ich fühlte mich fremd, einsam und gleichzeitig wusste ich, dass ich keine Angst haben brauchte.