In der Klasse 7c auf dem Gymnasium kam Stefan zu uns. Er war von der Parallelklasse herüber gewechselt. Seine Schwester Susanne war im Jahrgang unter uns. Als Stefan und ich uns anfreundeten, kam es unweigerlich dazu, dass ich Susanne kennenlernte und mich Hals über Kopf in sie verliebte. Es war ein Abend, an dem wir bei Stefan im Keller saßen und Computer spielten. Susanne kam die Treppe herunter und von einem auf den anderen Augenblick wusste ich, dass ich verknallt war. Sie war ein hübsches, blondes Mädchen mit lockigen Haaren, etwas frech und sehr selbstbewusst.
Ich versuchte vieles, um Zeit mit Stefan und vor allem mit Susanne zu verbringen. Wir spielten Gesellschaftsspiele, machten Radio, hörten Musik und lästerten über Klassenkameraden und Lehrer. Manchmal fuhren wir mit dem Fahrrad zusammen nach Hause.
Alles lief darauf hinaus, dass Susanne und ich uns annäherten. Ich war 13, sie 12. Es war eine völlig unschuldige und nichtkörperliche Liebe. Ihre Klassenkameradinnen verfolgten diesen völlig harmlosen Prozess sehr intensiv. Ich fühlte mich gut, wenn ich bei ihr war und miserabel, wenn es auch nur ein einziges Zeichen von Distanz gab. Es dauerte lange, aber es kam der Tag, an dem Sie mich fragte, ob ich mit ihr mit dem Fahrrad nach Hause fahren würde. Es war ein Zettel, der an meinem Fahrrad klebte.
Natürlich wolte ich mit ihr zusammen sein und sie wollte es auch. Es kam der Geburtstag ihres Bruders, an dem wir endlich den Höhepunkt unserer Teenager-Liebe erleben sollten. In der Eissporthalle war ein Disco-Event. Alle hatten eine Menge Spaß. Ich fuhr mit Susanne auf dem Eis. Die Musik, die Farben, die Stimmung – alles war romantisch. Ich nahm ihre Hand. Ich hatte alles was ich wollte. Ich war so glücklich, dass ich noch heute darüber grinsen muss.
Als wir den Heimweg antraten, saßen wir im Mercedes ihres Vaters nebeneinander, ihr lockiger Kopf legte sich auf meine Schulter, unsere Hände berührten sich. Alles war richtig. Die Welt war heile. Es war unser Moment.
Alles hätte so weitergehen können wie an diesem Abend.
Doch es vergingen nur ein paar Nächte, bis alles ganz anders wurde. Es wäre normal gewesen, eine Liebe im Teenager-Alter einfach zu beenden. Aber so war es nicht. Im modernen Sinne würde man sagen, dass ich mehr und mehr „geghosted“ wurde. Ich konnte mir diesen Umstand aber nicht erklären. Ich überlegte, was ich jetzt tun konnte. Meine ganze Hoffnung lag nun darauf, eine Silvesterparty bei mir zu veranstalten und damit alles zu retten. Doch auch die Kommunikation zu Stefan wurde seltsamer. An Heiligabend lief ich zu Fuß durch den Schnee zum Haus von Stefan und Susanne und warf einen Brief in ihren Briefkasten. In dem Brief bat ich Sie darum, mir zu sagen, was los ist und dass wir reden sollten. Doch es kam keine Antwort.
So vergingen die Tage bis zur Silvesterparty. Ich war traurig, antriebslos und hatte den heftigsten Liebeskummer. Die Silvesterparty wurde ein tolles Ereignis, doch weder Susanne noch Stefan kamen.
Am ersten Werktag des neuen Jahres kam meine Mutter mit der Zeitung in mein Zimmer. Ich lag noch im Bett.
„Ich weiß, warum die beiden nicht zu Deiner Feier gekommen sind.“
Sie hielt mir die Zeitung hin. Verschlafen suchte ich nach dem was sie meinte. Es war die Seite mit den Todesannoncen. Darin verabschiedeten sich Vater, Sohn und Tochter von ihrer geliebten Frau und Mutter.
Es musste schon länger etwas Unbemerktes vor sich gegangen sein. Meine Mutter erinnerte sich daran, dass sie Sannes Mutter noch gelb im Gesicht beim Einkaufen gesehen hatte. Jetzt wussten wir warum.
Niemand in unserer Klasse wusste so richtig, wie man mit dem ganzen Thema umgehen sollte. Ich bot Stefan an, dass er über alles reden könnte, wenn er wollte. Aber er war nie der Mensch, der viel über Gefühle oder private Dinge geredet hatte.
Ich brauchte lange, um über diese Episode hinweg zu kommen. Es war so viel offen geblieben und ich wusste nicht, wie ich diese Schmerzen verarbeiten sollte. So fing ich an, meine eigene Musik zu machen, zu schreiben und mir eine selbstgeformte Welt zu bauen.
Ich kann nur sagen, dass man lieber früher als später eine Therapie machen sollte. Diese Themen bleiben lange in uns gespeichert. Sie sind Teil unseres Körpers, unserer Seele, unserer Energie.
23 Jahre später war ich nun auf dem gleichen Fahrrad wie damals unterwegs nach Hause. Ich merkte, dass ich etwas klären wollte für mich. Ich fuhr auf den Schulhof und wurde mir noch einmal über alles was ich erinnern konnte gewahr. Die gesamte Zeit lief erneut vor meinem inneren Auge ab.
Am Tag darauf verfasste ich einen Text, den ich auf meiner Homepage veröffentlichte. Das hatte ich bisher auch nur ein einziges Mal zur Europawahl getan. Im Text ging es am Ende auch um Susanne.
Ich bekam viel Feedback zu dem Text, da ich ihn in meinem Whatsapp-Status teilte und ich freute mich darüber. Es fühlte sich gut an, diesen Schritt getan zu haben. Mehr erwartete ich nicht.
Circa eine Woche später passierte allerdings etwas Magisches. Mein Bruder Niklas schrieb mir, dass ihn eine Dame über ein soziales Netzwerk angeschrieben habe. Sie suche Kontakt zu mir wegen eines Textes auf den sie zufällig gestoßen sei. Er leitete mir ihre Nachricht weiter. Ich traute meinen Augen nicht: Susanne hatte meinen Text gelesen. Sie hatte mich kontaktieren wollen, um endlich alles einmal richtig zu klären, um endlich das schlechte Gewissen loszuwerden, um endlich Frieden zu finden.
Wir schrieben und schickten uns Sprachnachrichten – stundenlang. Sie hatte noch immer meine Briefe und ihr Tagebuch von damals aufbewahrt. Auch ich hatte noch mein Tagebuch und die Kassetten, auf denen unsere kindlichen Stimmen zu hören waren. Jede Erinnerung war wie ein Goldschatz, den wir hoben.
Das, was damals in mir kaputt gegangen war, begann zu heilen. Noch einmal durchlebte ich alles, als sei es gerade erst passiert. Noch einmal fühlte ich den Schmerz, der mir damals so viel Freude geraubt, so viel Zuversicht genommen und mich so niedergedrückt hatte. Ich ließ ihn zu, ich ließ ihn erzählen, ich ließ ihn die Tränen hervorbringen. Es steckte so viel Tiefe in unseren Gesprächen, so viel Verständnis und so viel gegenseitige Bewunderung, dass ich nach wie vor sehr dankbar für diese Verbindung zu ihr bin. Einige Tage später trafen wir uns. Es gab keine Liebe mehr zwischen uns, aber eine tiefe Zuneigung, viel Übereinstimmung und Vertrauen.
Für unser nächstes Treffen wollte ich mir einen lange unerfüllten Wunsch erfüllen. Wir trafen uns in der Nähe des Friedhofs, auf dem ihre Mutter die letzte Ruhe fand. Gemeinsam legten wir Blumen am Grab ihrer Mutter nieder. Freundschaftlich legten wir die Arme um uns.
„Sie hat Dich sehr gemocht.“ sagte Susanne.
„Jedes Mal, wenn ich zu Euch kam, habe ich deine Mutter begrüßt und meine Jacke in den Schrank gehängt. Ich erinnere mich immernoch an ihre Stimme. Ich habe deine Mutter auch sehr gemocht.“
Wie am Ende eines Buches, das lange offen und verstaubt im Keller gelegen hatte, konnten wir beide nun etwas leichter durchs Leben gehen.
Es ist ein wirkliches Privileg, dass Susanne nach so langer Zeit in mein Leben zurückgekehrt ist. Wir haben festgestellt, dass wir die am längsten sich kennenden Menschen sind, mit denen wir aus der Schulzeit noch Kontakt haben. Aus dem Wunsch, die Vergangenheit ruhen zu lassen und etwas zu klären, ist eine neue Wahrheit entstanden. Eine gute Wahrheit.
Wenn Sie die Chance haben, etwas wieder gut zu machen, ergreifen Sie diese.